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[mein leben in der schneekugel] .

I.
Im Bus ist es heiß. Und voll. Heiß und voll und ich habe Hunger. Das ist eine bittere Mischung, die mir meine sowieso schon beschissene Laune noch mehr versaut. Die Luft vor McDonalds stinkt süßlich nach verfaulten Speiseresten und Urin. Erinnert mich an New York, wo ich jetzt trotzdem tausendmal lieber wäre als hier, in einem heißen, vollen Bus, hungrig am Jahnplatz wartend. Was ich hasse: heiße, volle Busse. Um mich rum zu viele Menschen: manche schnaufen, andere husten, die meisten schwitzen. Ich schließe die Augen, aber da sind immer noch die Geräusche und Stimmen und ich kriege das alles einfach nicht aus meinem Kopf raus, dies und dich und die ganze lange, letzte Nacht.

BITTE AN WERKTAGEN AB 21 UHR BEIM FAHRER AUSSTEIGEN

"Fährt dieser Bus nach Werther?" fragt eine dicke, alt aussehende Frau den Busfahrer, der nur gelangweilt mit den Achseln zuckt. "Nein, dieser Bus fährt zur Uni. Der Bus vor uns fährt nach Werther." sagt ein freundlicher, hilfsbereiter junger Mann, wahrscheinlich Pädagogik Student, und unterbricht für diese informative Bemerkung sogar das Gespräch mit seiner durchaus gutaussehenden Freundin. Was ich hasse: Menschen die glauben, die Welt verbessern zu müssen.

BITTE WÄHREND DER FAHRT NICHT MIT DEM FAHRER SPRECHEN

Die Türen schließen sich, wir fahren los. Endlich. Doch kein frischer Fahrtwind, die Fenster sind zu; und so starre ich schwitzend raus und irgendwie fällt mir rein gar nichts ein, was diesen Tag noch retten könnte. An einer Ampel halten wir. Ich schaue aus dem Fenster und auf die Straße. Nicht weit vom Bordstein entfernt liegt eine schmutzige Taube auf dem Asphalt. Eine Körperhälfte sieht normal aus, die andere ist merkwürdig deformiert. Man sieht kein Blut, da ist nur der an mehreren Stellen unnatürlich geknickte Flügel und der verkrampfte Fuß und der zerdrückte Kopf. Um diese Taube hüpft eine andere, hüpft immer im Kreis um sie herum auf der staubigen Straße. Und ich beneide die tote Taube um ihren treuen Gefährten, der zwischen grobprofiligen Mercedes und VW und Opel-Reifen seinen von niemand beachteten Totentanz aufführt.

JESUS CHRISTUS SPRICHT: FOLGE MIR NACH

Eine Welle 12 bis 14jähriger Schulkinder schwappt in den Bus, sie schießen mit Brötchenbröseln, tauschen Bravo-Staraufkleber, treten und schlagen, klauen sich gegenseitig die Baseballkappen, schreien und quietschen und ich frage mich, wie sie nach sechs Stunden Schule noch so nervig laut und lebhaft sein können. Was ich hasse: nach Colalollies stinkende Schulkinder.
An der Haltestelle klebt eine Überfrau, lacht mich an, streckt mir ihre Brust entgegen Push-up Bikini ab 29,90 und ich bin seltsam erleichtert, daß nicht ein halbnackter Mann da in Agfacolor in der Sonne glänzt. Wir fahren weiter und ich zähle Volvos. Wenn uns bis zur nächsten Haltestelle mindestens drei entgegengekommen sind, muß ich meine Linguistik-Hausarbeit nicht noch mal schreiben. Ich glotze auf die Autos, versuche die Fliege zu ignorieren, die an der Scheibe auf und ab summt und nach einem Ausgang sucht. Der Bus hält. 23 VW Golf, nicht ein Volvo. Und es gibt gar nichts mehr, was diesen Tag noch retten könnte.

WAGEN HÄLT

Endlich: Veränderung. Die Türen öffnen sich, frische Luft weht durch die Sitze. Und plötzlich ist da dieser Duft. Es riecht frisch und fruchtig. Nach Äpfeln, nach Orangen. Eine junge Frau steigt ein, sucht einen Platz und setzt sich mir gegenüber ans Fenster, auf den Sitz mit dem abgenutzten Karomuster, und mit ihr kommt dieser herrliche Duft. Sie hat kurze, schwarze Haare, eine eher blasse Haut, ein etwas längliches Gesicht mit sehr helle Augen, eine Farbe zwischen grün und braun, beinah katzengleich. Doch anstatt aufzublicken und mich anzulächeln schlägt sie ein Buch auf und liest. Ich senke meinen Kopf, doch nur soweit, daß ich sie noch unauffällig beobachten kann. Leider kann ich nicht erkennen, was für ein Buch sie da liest, sonst könnte ich ein kleines Gespräch beginnen und sie mit meinem Charme und literarischen Wissen beeindrucken. Der Bus biegt um eine Ecke und die Sonne wandert ihr Gesicht hoch, ihre Augen blinzeln und ihre Pupillen verkleinern sich. 'Sprich zu mir, himmlisches Geschöpf!'. Aber keine Reaktion. Wie kann ein dummes Buch interessanter sein als ein Gespräch mit mir? Und plötzlich erinnere ich mich an ein Seminar, in dem mal jemand erzählt hat, wie man aus Anagrammen Zaubersprüche macht, indem man die Buchstaben eines beliebigen Satzes umstellt und so einen neuen Satz erhält. Aus meiner Tasche hole ich Stift und Papier. Hastig habe ich einen mächtigen Zauberspruch kreiert und denke beschwörend: Sprich zu mir! Ich sur Mirpz. Uhr zimp sirc. Pir schum Zir. Ich zur spirm. Sprich zu mir!

Noch ganz beeindruckt von meinen magischen Kräften starre ich sie wie ein Verrückter an, als sie plötzlich den Kopf hebt, mich anblickt und sagt: "Hey, du hast gerade deine Tasche auf meine Füße gepackt!" Ich stammle sowas wie: "Sorry..." und sie steht auf und steigt samt Lektüre aus. Der Bus fährt weiter und ich sehe sie an meinem Fenster vorbeigehen, das Buch hält sie so in der Hand, daß ich den Titel lesen kann: Männer - und warum sie erbärmliche Geschöpfe sind. Was ich hasse: feministische Literatur.

SCHWARZFAHREN UNFAIR - BEZAHLEN MUESSEN ANDERE

Müde lehne ich den Kopf an die Fensterscheibe. Es ist immer noch heiß, ich schwitze und die Luft im Bus wird dünner und dünner. Draußen Leute in Biergarten- und Freibadlaune. Plötzlich ist Sommer. Ohne Vorwarnung, ohne Frühling. Einfach so. Unvermittelt: Sommer. Die Sonne grausam grell und fröhlich scheint sie vom Himmel mit ihrer don't worry - be happy Fratze. Alle laufen in T-Shirt rum, und immer zu zweit. Wann immer ich Menschen sehe: zu zweit. Das macht die Sonne. Was ich hasse: den Sommer.

Jetzt fängt das Warten wieder an. Der Sommer kommt und du bist fort. Und ich hätte nie gedacht, daß man so allein sein kann. Ich habe nur noch Angst. Das sagt sich so leicht und lebt sich so schwer. Ohne dich schneit um mich die Furcht in weißen, weichen Flocken: Mein Leben in der Schneekugel.

NOTHAMMER. BEI GEFAHR SCHEIBE EINSCHLAGEN

II.
Ich laufe durch die Halle, beinah hastig, den Kopf gesenkt und hoffe, daß ich dir nicht begegne. Bis zum Fahrstuhl geht alles gut. Doch dann Goliaths freundliches Gesicht, als sich die Türen öffnen und ich höre mich "Hallo!" sagen mit einer überraschend ehrlich klingenden Herzlichkeit, die mich erschreckt. - Ich nehme die Treppen.

Der Raum ist schon fast voll, dabei ist es erst kurz nach zwei. "Ist hier noch frei?" frage ich und ohne die Antwort abzuwarten oder meinem Nachbarn ins Gesicht zu sehen setzte ich mich, packe meine Sachen aus. Stift und Hefter, neben die leere Colaflasche auf den großen, viel zu weißen Tisch. Wie auf ein leeres Blatt Papier starre ich auf die Tischplatte und schmiere schließlich when this you see remember me zwischen zwei angetrocknete Kaffeeflecken, wobei ich mit einer Hand die Flasche zur Seite schiebe und KRACH! fällt sie um. Mit einem Schlag ist es sehr, sehr still im Raum. Ohne aufzublicken sehe ich, wie mich alle anstarren, einige amüsiert, andere strafend. Ich spüre, wie meine Ohren glühen, das Blut pulsiert in den Wangen. Ich habe gegen die erste Regel verstoßen: NICHT AUFFALLEN! "Mal wieder den Kampf gegen die Schwerkraft verloren" murmel ich entschuldigend. Zu meiner Rettung eilt in diesem Moment der Dozent in den Raum und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. "Guten Tag, äh, heute machen wir dann da weiter, wo wir in der letzten Sitzung aufgehört haben, äh, aber vorher wollte ich noch fragen, ob sich noch jemand für das Referat zum Thema Konfliktsoziologie und Systemtheorie interessiert? Nein, ja dann...."
"Doch ich" ruft jemand am Fenster.
"Das wäre dann aber nächste Woche schon."
"Ja, ist klar."
"Wenn sie mir dann einmal gerade ihren Namen..."
""Rösler."
"Häsler?" fragt der über den Tisch gebeugte Dozent nach.
"Rösler!"
"Hösler?" fragt der Dozent und blickt zum ersten Mal auf und suchend in die Runde.
"Ja, lassen wir's dabei" ist die resignierte Antwort.
"Herr Hösler macht dann also nächste Woche und ich denke, wir hören heute auch ein Referat. Stimmt das?"
Jemand steht auf, geht nach vorne und teilt Thesenpapiere aus. "Ich habe den Text mal so oberflächlich zusammengefaßt und zwei kleine graphische Darstellungen erstellt und..." Ich blättere durch die Kopien. Scheiße, mal wieder so ein Streber, der vier Seiten Text auf fünf Seiten Thesenpapier zusammenfaßt - und dann auch noch mit zwei Schaubildern, die ich an meinem Computer niemals hingekriegt hätte.

Konfliktsoziologie und Sozialstrukturanalyse. Gegensatz oder Symbiose? Von Martin Kerstens.
"Ja, also" sagt mein Dozent und lehnt sich zurück. "Herr Karstens wird uns nun etwas über den Text von Dahrendorf erzählen. Bitte, fangen sie an..."  Das verspricht mal wieder die spannendste Stunde des Tages zu werden. Mein Kopf ist schwer wie ein Korb nasser Wäsche, ich stütze ihn auf meine Hände und lasse mich treiben.
"Dahrendorf beginnt seinen Text mit der Feststellung, daß..." Für einen süßen Moment lang verliere ich mich, weiß nicht mehr, wer und wo ich bin, meine Gedanken liegen kreuz und quer. Doch schnell sinkt die Angst ein in meinen Kopf wie ein Senkblei und gibt den Gedanken eine klare Richtung. Wieder denke ich an dich und das gefällt mir nicht. "....der soziale, äh, Kontext der Konfliktaustragung..." An die Nacht, als wir im Kino waren und man dich gestohlen hat. "...das transformiert dann die Perpetuierung der Heterogenität..." Wir sahen diesen Film und plötzlich merkte ich, daß du weg warst. Du warst einfach weg. "...der, äh, utilitaristisch rationale Konflikt..." Und ich sah unter den Sitzen nach und ich sah hinter der Leinwand nach und ich drehte sogar jede Tüte Popkorn um, doch du warst einfach weg. "...äh, das kann hierdann loziosogisch..." Und ich lief raus und da sah ich, wie dieser Dieb dich hielt. Du schautest dich nur um und hast gelächelt, dein liebliches Lächeln, das nichts verrät. Das nichts verrät außer wie belanglos ich bin. "...davan konverlast, äh, abgewunden urf Gaserlanst..." und dann sagtest du: Darf ich vorstellen? Das ist Goliath. Und wahrhaftig! Er war es. Mit seinem immer freundlichen Gesicht, mit den geraden Zähnen, weiß und unbenutzt wie neue Turnschuhe, tänzelte er freundlich um dich rum und lachte mich freundlich an. In seinem Ohr ein Ring um zu zeigen, daß er Schmerzen aushält, in seinen freundlichen Armen dich und ich stand da und wollte dir ins Gesicht schreien, daß ich dich mehr liebe als du je verstehen wirst, doch meine Worte waren leer geworden und zerbrochen auf meiner Zunge "...bisunwer donst er gardich Dahrendorf..." und sie konnten es nicht aufnehmen mit Goliaths freundlicher Stille. Denn der ist stark und unbesiegbar. Das glaubst du mir nicht? Ha! Freundchen, dies hier ist das wahre Leben und nicht die Bibel. Voilà sagte Goliath freundlich (denn er spricht perfekt französisch). Dann nahm er dich und du sagtest noch: Das ist kein Raub. Das ist meine Flucht. "...anganzen brungen drei Bewinderungen..." Zwischen Bauch und Herz wird es bitter in mir bei den Gedanken an gestern Nacht. Ich schaue aus dem Fenster. Draußen fahren die Autos vorbei und es klingt wie Meeresrauschen. Mein Nachbar murmelt im Schlaf.

Plötzlich: Klopfen. Das Referat ist zu Ende. Mein Nachbar schrickt hoch, blinzelt angestrengt und raschelt auffällig laut mit dem Thesenpapier. Anfänger.
"Ja, vielen Dank an Herrn Kaster für diese doch sehr gelungene Zusammenfassung. Vielleicht sollten jetzt sie zu den zentralen Thesen Dahrendorfs Stellung nehmen. Wer möchte Anfangen?"
 
 
 
 
 
 

Es ist beinah friedlich still, nur das Rauschen des Meeres, während mein Dozent, noch immer auf eine Wortmeldung wartend, stumm in die Runde starrt. Ich nehme den Stift und schreibe wieder: when this you see remember me.

III.
Das kleine, gelbe Reclamheft grinst mich an.
"Die ziehrlichkeit erfordert das die worte reine vnd deutlich sein. Damit wir aber reine reden moegen sollen wir vns befleissen deme welches wir Hochdeutsch nennen..." Meine Dozentin liest laut vor. Martin Opitz und die Poetik des Barock. Ich lehne mich zurück. Müde, müde, müde. "Wie seltzam dies nun klinget..."

Die Worte sausen an mir vorbei, eins nach dem anderen. Ich achte auf ihren eigentümlichen Klang, ihren Sinn hebe ich mir für später auf. Ich starre vor mich hin und auf die weiße Wand. Es schmerzt ein wenig, ins Weiß zu schauen. Mir gegenüber, am anderen Ende des Raums, sitzt ein leerer Stuhl, an der Wand, neben der Tür. Ich brauche den Kopf nicht zu bewegen, nur die Augen zu heben und schaue auf den weißen Fleck zwischen den Menschen, die alle mehr oder weniger angestrengt über die Poetik des Barock nachdenken.

Plötzlich geht die Tür auf. Ein Mädchen zwängt sich durch den Türspalt, blickt schuldbewußt zur Tafel, wo meine Dozentin nur kurz vom Buch aufblickt. Hier ist es jedem so scheißegal, ob man da ist oder nicht. Das Mädchen setzt sich auf den leeren Stuhl. Ich werde etwas wacher und sehe sie an. Sie hat hohe Wangenknochen, ihre hellbraunen Haare bis über die Schultern, der Mittelscheitel etwas nach links verschoben. Sie hat eine spitze Nase und Ertappt! Sie schaut hoch, sieht in meine Richtung. Schnell wende ich den Blick ab, schaue in mein Buch.

"Die Worte bestehen in dreyerley..." Ich verkneife mir ein Gähnen, nicke interessiert mit dem Kopf, vielleicht sieht's ja jemand. Langsam blicke ich wieder auf. Sie hat den Kopf zur Seite gelegt und fährt mit den Fingern über die Stirn, die Schläfen herab. Sie trägt ein weißes Hemd, an den Ärmeln nicht zugeknöpft, und eine dunkelrote Weste. Ihr Blick ist eigenartig streng, sie hat bisher noch nicht einmal gelächelt. Prüfend schaut sie auf ihre Finger und Ertappt! Wieder blickt sie auf und in meine Augen. Ich tue so, als ob es Zufall wäre, lehne mich zurück und versuche in den braunen Flecken an der Decke Tiere zu erkennen. Nach einer langen Weile senke ich wieder vorsichtig meinen Blick, ganz vorsichtig. Sie gähnt, schaut müde auf den Boden und kaut auf ihrer Lippe. Sie hat schöne dunkle Augen, deren Farbe ich aus der Entfernung nicht erkennen kann. Sie streckt die Schultern nach hinten, lehnt den Kopf gegen die weiße Wand und streicht mit einer automatischen Handbewegung eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie starrt an mir vorbei aus dem Fenster und scheint zu träumen. Gelächelt hat sie immer noch nicht. Ohne Vorwarnung läßt sie den Kopf plötzlich auf die Schulter fallen und ihr Blick wandert an mir hoch und Ertappt! Verdammt! Schon wieder. So langsam wird es peinlich, verzweifelt suche ich in den Zeilen nach der Stelle, über die gerade gesprochen wird. "Die verkehreung der worte stehet bey vns sehr garstig..."

Nach ein paar Minuten wage ich es langsam aufzuschauen. Ganz langsam und ganz vorsichtig. Zuerst ein bißchen den Boden entlang, dann den Tisch hoch, ihr Fuß, ihre Hände, ihr Ertappt! Sie blickt mich immer noch an. Ich merke wie ich rot werde, blättere nervös mit den Seiten. "...das die worte in den verß gezwungen vnd gedrungen sein...". Aus purer Neugier wage ich nach einiger Zeit einen verstohlenen Blick in ihre Richtung. Sie scheint zu träumen, ihr Gesicht entspannt, langsam schlägt sie die Beine übereinander, stützt den Ellenbogen auf ihr Knie und ihr Kinn auf die flache Hand.

Plötzlich Gelächter. Meine Dozentin hat etwas Lustiges gesagt, hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Ich grinse. Mehr aus Gruppenzwang als aus Überzeugung. Doch keine Regung in ihrem Gesicht. Sie fährt nur mit der Zunge schnell über die Lippen, blickt teilnahmslos auf den Boden, auf ihre Füße. Es ist, als ob sie die Sprache nicht verstehen würde. Ich reiße einen kleinen Zettel zurecht und schreibe in Großbuchstaben LACH MAL! Als ich wieder aufblicke wickelt sie ihre Jacke um sich wie eine Decke. Ich falte den Zettel zusammen. Plötzlich steht sie auf, streicht sich noch einmal die Haare aus der Stirn, geht zur Tür und verläßt den Raum. Meine Dozentin blickt nicht vom Text auf. Erleichtert zerreiße ich den Zettel.

IV.

Auch auf diesem Flur kein Entkommen vor der Hitze, die sich aufgestaut hat, hinter Glastüren wartet, um mir brutal ins Gesicht zu schlagen. Draußen hat sich der Himmel verdunkelt, die Gewitterwolken sehen aus wie Gewitterwolken, sehen viel zu schwer und naß aus, um einfach so im Himmel zu hängen. Ich sehe, wie die Bäume sich in den Böen biegen, aber bis hier rein kommt der Wind nicht, prallt an den schmutzigen Panoramascheiben ab, durch die ich auf den Dachgarten der Uni blicke.

Der Seminarraum ist noch nicht frei, also setzte ich mich auf die große Fensterbank gegenüber der Tür und schaue raus, um nicht die Menschen anblicken zu müssen, die an mir vorbeilaufen, redend, lachend, flüsternd oder einfach nur stumm. Ich schwitze und lehne meine Stirn gegen die Scheibe, in dem Glas mein Spiegelbild und wieder nur meine jämmerliche Gestalt, in sich zusammengesunken. Wo ist bloß meine Würde hin?

Plötzlich blitzt es kurz auf, danach der Donner und dann, endlich, fallen sie, die nassen Regentropfen fallen langsam und vereinzelt aus allen Wolken fallen die nassen Regentropfen so langsam und vereinzelt daß ich im Zickzack zwischen ihnen durchlaufen könnte ohne naß zu werden stürzen sie vom Himmel wie schwer einsame Baßnoten eines Klavierstücks von Philip Glass klingen und zerspringen auf Blättern zerfließen sie langsam schlagen sie auf den Boden. Ich denke an dich. Und ich wünschte ich könnte jetzt da stehen, da draußen im kühlen Regen stehen und das Wasser spüren wie es hart auf meine Haut fällt und aus den Haaren tropft und in die Augen und den ganzen Staub eines beschissenen Sommertags runterwäscht wie Asche. Doch ich sitze hier nur matt und müde und sehe, wie die Tropfen die Scheibe runterlaufen und dabei lange, dreckige Schlieren ziehen.

Ich schließe die Augen. Das Geräusch des Regens beruhigt mich, macht mich noch müder, macht mich noch schwerer undu sagst:
"Wenn ich in deine Augen schaue, dann sehe ich Gedichte statt Liebe."
Und ich frage mich, wie du das bloß auseinanderhalten kannst.
"Liebe ist blau und deine Augen sind braun. Vielleicht ein bißchen grünlich..."
Also steige ich auf den Dachboden und nehme die verstaubten Wasserfarben und male meine Augen blau. Und gehe zu dir und sage: "Schau!
                             jetzt sind sie blau!" Doch du sagst:
"Liebe hat die Farbe gewechselt. Sie ist jetzt rot." Da bin ich so enttäuscht, daß ich anfange zu weinen. Das schöne Blau wird fortgewaschen und meine Augen werden rot vom Salz und rot vom Schmerz und du sagst:
"Das
ist die Farbe der Liebe!"
Und dann kommt noch so ein lauter Donner und ich schrecke hoch und schaue auf die Uhr und versuche, im Seminarraum noch einen Sitzplatz zu ergattern.
"I hope you've all read the text" sagt Prof. B. und schaut uns erwartungsvoll an. "So, any questions?"

Umständlich krame ich meinen Reader hervor und suche in den Seiten. The Death of the Author von Roland Barthes. Ich habe mir sogar einige Stellen unterstrichen.
"What I don't quite get is his concept of the author..." sagt jemand neben mir. Aus meiner Mappe fällt der Brief, den ich vor ziemlich genau einem Jahr an dich geschrieben, aber nie abgeschickt habe. Heute Morgen, nach einer durchwachten Nacht, habe ich ihn wieder hervorgekramt und mich gefragt, ob die Sache wohl anders gelaufen wäre, hätte ich einen Weg gefunden, dir dies alles zu sagen.
"...I mean as far as I understood it, the author does not exist anymore."
"Yes, right." sagt B. und macht ein paar Schritte auf die Tafel zu. "Barthes says that it does not matter, who is writting the text, that..."
"Well, this sounds like New Criticism" unterbricht ihn jemand, "And if there is no author, who is writing the text in the first place?"
Hallo Inga! Es ist Sommer, und ich wünschte, Du wärst jetzt hier. Ich habe in den letzten Tagen oft an Dich denken müssen, wahrscheinlich öfter, als Dir lieb ist. Ich wäre gerne stark und ich wäre gerne mutig, so daß "Well, let us turn to the text to answer those questions." schlägt Prof. B. vor und blättert in den Seiten. "And let me remind you of the concept by Saussure, that language is a closed system." GRAPHIT GLÄNZT AUF DER ZUNGE UND MEIN GAUMEN IST WUND ich es übers Herz bringen würde, Dich einfach und ohne entschuldigenden Grund anzurufen und zu sagen: Hallo Inga! Ich vermisse Dich ein bißchen. Ich vermisse Deine "In a way, Barthes goes a step further and says that you, the reader and the author, too, is caught in this closed system." IM FIEBERTRAUM DAS THERMOMETER ZERBEISSEN UND DIE HEISSEN PERLEN TANZEN IM MUND "The author is caught in this closed system and cannot escape." dunklen, abgrundtiefen Augen und Dein Lachen und Dein nachdenkliches Schweigen. Ich vermisse es so, als ob ich es schon immer gekannt hätte. Und das macht mir "...and this is what he refers to on page 51: 'the speech-act is an empty process'..." ein wenig Angst. Denn ich will nicht, daß mein Leben wieder kompliziert wird. Ich habe mir doch geschworen, mich um keinen Menschen mehr zu kümmern. In Gesichter zu sehen und nichts mehr zu fühlen außer "One very important idea is expressed on 52 where he writes that 'the modern scriptor is born at the same time as his text'..." Gleichgültigkeit. Und jetzt kommst Du mit Deinem großen, offenen Herzen und machst das alles zunichte. IRGENDWIE MACHT SCHREIBEN MICH GAR NICHT MEHR SO GLÜCKLICH Plötzlich ertappe ich mich dabei, wie ich mir wünsche, Dich in der Uni zu treffen. Wenn ich durch die Halle gehe halte ich nach langen, "...and of course the sentence: 'writing can no longer designate an operation of recording, of observation, of representation'..." UND SPRACHE HÄNGT MIR WIE EIN KLOTZ AM BEIN dunkelbraunen Haaren Ausschau. "and thus he says that the author, or rather the scriptor, is a person without history, without biography, without psychology. He is born in the process of writing, and vanishes when the writing ends." LIEBER STUMM ALS SPRACHLOS SEIN Nie war mein Telefon so still wie in den letzten Tagen, und nie war ich meiner so unsicher wie jetzt, wo ich hier sitze und schreibe: Hallo Inga! Es ist Nacht und dies alles gleitet mir aus den Händen, ich finde keine Form mehr, die Distanz, die ich sonst peinlich genau zu jedem Menschen einhalte, will sich bei Dir nicht so recht einstellen - und das bereitet mir Kopfzerbrechen. Diese Distanz zu "But if the author is dead, who is writing the text?" fragt jemand. B. holt tief Luft. ICH WILL NICHT MIT DIR REDEN - ICH WILL DICH DOCH BERÜHREN "Language. Language does speak, language does write itself in a way. This is on page 53: 'the text is a fabric of quotations, resulting from a thousand sources of culture.' And later on he writes: 'Life merely imitates the book.'..." anderen Menschen, die mich vor Gefühlen beschützt; diese Höflichkeiten, die mich davor beschützen nicht zu wissen, wie ich mich verhalten soll. Diese formalen Armlängen-Abstände, die mich beschützen, aber gleichzeitig unsagbar alleine lassen. Und plötzlich habe ich für "Now remember what Lacan had said, that as soon as you enter the system of language, you are caught." KANN DENN SPRACHE ZÄRTLICH SEIN? "You are trapped, unable to get to 'the Real'. You are a subject barred by language. He created this sign for this idea..." Prof. B. geht zur Tafel, schreibt ein großes S an die Tafel und zieht einen dicken, weißen Kreidestrich durch den Buchstaben. "A subject barred by language." wiederholt er. Dich das entgegengesetzte Gefühl. Leider weiß ich mit diesem Gefühl nicht richtig umzugehen. Und daraus wächst meine Unzulänglichkeit - meine Sprachlosigkeit, die sich hinter viel zu vielen Worten versteckt. UNTER DEN DICHTERN IST DER STUMME KÖNIG Ich befürchte, daß alles, was ich hier und heute Nacht geschrieben habe Dich zu nicht mehr macht, als meinem ärgsten Freund. Aber davon habe ich schon so viele, so viele "And this is another aspect of language. It alienates us from the 'real thing'. The acquisition of language alienates humans from all those things that language names." VERSAGEN KOMMT VON SAGEN. SO MACH ICH DIR EIN GEDICHT - UND ER MACHT DIR EIN KIND "The name is the substitute for the thing! It displaces the thing in the very act of naming it, so that language finally stands even between one human being and another." Scherben um mich rum, daß der Schritt nach vorne zu risikoreich erscheint. Ich weiß nicht, wie ich dir nahekommen kann, wie ich heute Nacht bei Dir sein kann außer in diesem Brief, MIT DEM BEILSTIFT IN DER HAND GEGEN DAS SCHNEEKUGELGLAS in dem ich ständig schreibe: Hallo Inga! Jetzt habe ich viele große Worte um ein bescheidenes Gefühl gemacht: Ich vermisse Dich heute Nacht. VERSAGEN KOMMT VON SAGEN "...and this is the concept of the 'subject barred by language'." Ich habe den Brief damals nicht abgeschickt. Und ich habe nicht mit dir gesprochen. Ich blieb stumm, denn ich wußte nicht, wie ich mit dir sprechen sollte. Reden schien das Falsche zu sein. VERSAGEN KOMMT VON SAGEN Manchmal reichen Worte einfach nicht aus. Aber was, wenn man nichts anderes hat, außer Sprache? "...the concept of the 'subject barred by language'." Ich starre auf den Brief in meiner Hand, VERSAGEN KOMMT VON SAGEN ein Jahr her ist das schon. "...of the 'subject barred by language'." und ich lebe viel zu schnell, zwischen den Zeilen wird es grell "...what he means by versagen kommt von sagen..." es blendet mich und so wende ich das Blatt.

 THE SUBJECT BARRED BY LANGUAGE

"All right, I'll see you next week. Please prepare the text by Derrida, it's in the reader, too." Ich hetze aus dem Raum, laufe den Gang entlang. Ich will einfach nur raus hier, raus hier, an die Luft, in den Regen, raus hier. Ich haste durch die Flure, stolper beinah, laufe auf den Ausgang zu. Durch die Türscheibe sehe ich den Himmel draußen, die Bäume und das grasgrüne Gras. ZIEHEN lese ich im Drücken und knalle vor das Glas.

V.
"Ein Messer ist besser als ein Freund". Das ist ein schrecklicher Satz, doch je öfter ich ihn lese, desto klarer wird er. Und je öfter ich ihn lese, desto wahrer wird er. SSSS! Ist der Narr eine Musenfee? Bleileib. Reime rissen, fassen es, dursten als Besseres unser Erde in Tiefsinn. Mein Lied starb. Fernsee, reiß es uns aus! Seelen fressen Reime. Stirb! Sind seine Leben ein Sturmriss? Darf es, es? Lass die Reisen reifen, sterben. Muß das Leben Feuer sein? Stern im Riss. Mein Stern fraß Liebesreue. Es sind Risse im Sein. Es sterben Freunde. Sterben Seelen? A! Es sind Risse im Ruf. Ein Messer ist besser als ein Freund. Die Seelennarbe muss frei sein! Rest: S.

VI.
Heute bin ich dran. Langsam füllt sich der Raum Hätte ich nicht gedacht, bei dem schönen Wetter doch so viele Leute. Ich nehme den Hefter, hole die Kopien raus, drei sorgfältige Stapel. Mein Dozent kommt in den Raum, stellt den Koffer auf den Tisch, "Guten Tag", wartet noch einen Moment bevor er anfängt. Heute bin ich dran.  Ich schraube die Flasche auf, gieße etwas Wasser in den Pappbecher mit den drei roten Streifen. Mein Mund ist trocken, ich bin aufgeregt. Heute bin ich dran. "So..." mein Dozent hebt die Stimme "..heute werden wir einen weiteren Text hören, letztes mal hatte sich ja jemand gemeldet, ist der oder diejenige heute da?" Heute bin ich dran. Ich hebe den Arm. Er schaut mich an. "Ja, möchten sie dann gleich den Anfang machen?" Heute bin ich dran. "Kann ich machen..." sage ich. "Ich habe dreißig Kopien gemacht, ich hoffe das reicht..." Die Kopien werden weitergereicht. Heute bin ich dran. Papierrascheln und Räuspern, jemand kommt zu spät und sucht einen Stuhl, ich schwitze, nehme einen Schluck Wasser, fühle mich unwohl. Mein Herz schlägt bis in die Zunge, ich schlucke. Heute bin ich dran. Endlich hat jeder den Text. "Ja, dann fange ich einfach mal an..." In meinem Hinterkopf drückt und schabt es, als wollte sich jemand mit einem Löffel den Weg nach draußen freikratzen. Ich atme ein und spüre, wie sich die Worte in meinem Mund formen. Deutlich, fest, köstlich. Heute bin ich dran. "Mein Leben in der Schneekugel" Meine Zunge tanzt im Mund und sie spielt mit den Buchstaben, mein Kopf vibriert mit jedem Vokal, ich spuke die Worte, ich spreche die Worte, ich singe die Worte, ich summe die Worte, die Gestalt bekommen in meinem Mund, rund und fruchtig und körperlich wie ein Bissen Brot, ein Schluck Wein, aus Blei wird Lieb und Leib und Beil. Meine Zunge springt hin und her und zärtlich streichelt sie die Worte, bevor meine Lippen sie unwiederbringlich freilassen. Das köstliche Gefühl der Worte im Mund. "Im Bus ist es heiß. Und voll. Heiß und voll und ich habe Hunger..." Unter den Klang meiner Worte mischt sich das Klirren von Glas...